Deep dive

Warum Aufmerksamkeit zur neuen Währung wird

Aufmerksamkeit ist eine zentrale Voraussetzung für Kommunikation. Sie ist der Trigger für alle Verarbeitungsprozesse im Gehirn der Rezipienten und damit auch der "Zentralschlüssel" für die erfolgreiche Werberezeption. Darum drehte sich beim 1. Screenforce Expertenforum 2023 alles um aktuelle Erkenntnisse zum Thema Aufmerksamkeit im Media-Kontext.

 

Dass Umfeld und Mediagattung einen starken Einfluss auf die Qualität des Werbekontakts haben, wird schon seit Jahrzehnten in Studien immer wieder bewiesen. Audiovisuelle Medien können gleich auf drei Ebenen – Bild, Ton und Storytelling – Aufmerksamkeit generieren und aufrechterhalten. Besonders gut gelingt dies dem Fernsehen, wie die Screenforce Studien "Not all Reach is equal" und "Track the Success" zeigen konnten. Hier performte Werbung in TV-Content deutlich besser als beispielsweise bei YouTube oder Facebook.

 

Beim 1. Screenforce Expertenforum 2023 berichteten nun vier Forscher:innen darüber, wie sich Aufmerksamkeit messen und operationalisieren lässt und wie man die Learnings in die Media-Praxis übertragen kann.


Non-invasive Messung realer Nutzung

 

Mediennutzung ist ein störungsanfälliger Prozess. Umso wichtiger ist es, sich bei der Erfassung der Nutzungssituation so nah wie möglich an den Alltag anzunähern. Die Proband:innen sollen durch die Instrumente so wenig wie möglich gestört werden, idealerweise entspricht auch das Setting einer typischen Nutzungssituation.

 

Seit fast einem Vierteljahrhundert betreibt das Berliner Institut eye-square Aufmerksamkeitsforschung an verschiedenen Touchpoints und verfügt über eine fundierte Methodenkompetenz und ein breites Repertoire an Benchmarks. Die Forscher Dr. Matthias Rothensee und Stefan Schönherr verdeutlichten beim Expertenforum die beeindruckende Entwicklung dank rasanter Miniaturisierung der Devices zur Messung und Analyse.

 

Letztlich gibt es beim Eye-Tracking vier verschiedene Ansätze und alle haben erheblich von der Miniaturisierung profitiert. Bei den traditionellen Methoden, dem Remote- und dem Head Mount-Tracking, ist das grundlegende Prinzip der Blickverfolgung im Wesentlichen unverändert geblieben: Das Gesicht der Proband:innen wird Infrarotlicht ausgesetzt, mehrere Kameras messen die Reflexionen dieses Lichts an der Oberfläche der Pupille. Aus der Kombination dieser Messungen lässt sich die Blickrichtung errechnen.

 

Beim Remote Tracking verfolgen die Proband:innen die Inhalte auf einem Gerät, von dem auch die Messung ausgeht. Vor 20 Jahren musste man für einen Desktop-Monitor zur Messung des Blickverlaufs einen mittleren fünfstelligen Betrag ausgeben – die gleiche Technik ist heute als Clip-on Device für weniger als 300 Euro erhältlich.

 

Dagegen tragen beim Head Mount Tracking die Proband: innen die Hardware zur Blickverfolgung. Bei den ersten Geräten handelte es sich noch um Fahrradhelme, an denen mehrere Kameras befestigt waren – verbunden mit externen Aufzeichnungsgeräten. Heute kann die gesamte Sensortechnik in einer Brille integriert werden, die sich äußerlich nicht von den Modellen der Optiker unterscheidet. Bis zu drei Stunden Aufzeichnung und Tracking finden dann auf einem mit der Brille gekoppelten Smartphone statt.

 

Diese beiden seit langem bewährten Ansätze sind extrem präzise, erfordern aber spezielle Hardware auf Seiten der Proband:innen. Um diese Einschränkung zu umgehen, hat sich inzwischen auch ein Markt für die Aufmerksamkeitsmessung über Webcams etabliert. Diese Methode ist zwar nicht ganz so genau wie das Hardware-Tracking, dafür aber universell verfügbar und auch in großen Panels auf PCs, Smartphones und Tablets einzusetzen.

 

Das neueste Forschungs-Paradigma im Bereich der Blickverlaufsforschung kommt ganz ohne Proband:innen und ihre Blicke aus, denn hierbei wird KI-basiert prognostiziert, wie der Blickverlauf aussehen könnte. Das Ergebnis sind auch hier die typischen Heatmaps. Wie derzeit noch in vielen Bereichen der KI-Anwendung zeigt sich allerdings auch hier: In sehr vielen Fällen liegt die KI zwar richtig – aber in einigen Fällen legt der Vergleich mit tatsächlich gemessenen Blickverläufen erhebliche Fehlprognosen offen.

 

Meaningful Attention: Aufmerksamkeit ist mehr als Kontaktdauer

 

In einer idealtypischen Welt würde sich Aufmerksamkeit direkt in Recognition übersetzen – je länger der Kontakt, umso stärker die Werbeerinnerung. Metaanalysen von Blickverlaufsstudien zu Werbemitteln über alle Gattungen hinweg zeigen aber: Entscheidend für den Impact sind bereits die ersten 2-3 Sekunden des Werbemittelkontakts. Hier kann im Idealfall ein Aufmerksamkeitsniveau aufgebaut werden, das über die ganze Kontaktdauer mit dem Werbemittel hinweg anhält.

 

 

 

Betrachtet man einzelne Gattungen, so zeigen sich auf medialer Seite deutliche Einflüsse von Umfeld und Werbeform auf den Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Impact. Auf Seite der Rezipient:innen spielt die Nutzungssituation eine entscheidende Rolle – wie entspannt ist man, was erwartet man gerade vom medialen Kontakt? Ist die Aufmerksamkeit für Werbung erzwungen, oder ist der Verfassungswechsel eventuell sogar erwünscht?

 

Genauso, wie es Qualitäten von Umfeldern gibt, gibt es auch Qualitäten von Aufmerksamkeit. Bei erzwungener Aufmerksamkeit führt ein längerer Kontakt nicht mehr zu einem Anstieg an Wirkung, bei freiwilliger Aufmerksamkeit zahlt der längere Kontakt auf den Impact ein.

 

"Die technische Messung der Aufmerksamkeit ist einfacher geworden, es liegen heute viel mehr Daten in viel höherer Qualität vor. Jetzt geht es darum, aus diesen Daten wirklich das Maximum herauszuholen – nicht nur bei der reinen Betrachtungsdauer stehenzubleiben, sondern die Qualität der Aufmerksamkeit besser zu verstehen. Denn das hat einen Wert für die Werbetreibenden, das hat einen Wert für die Konsumentinnen und Konsumenten."
Dr. Matthias Rothensee, eye-square

 

Von der Theorie zur Praxis: Aufmerksamkeit als Planungsgröße

 

Dr. Laura Graf hat über die Verarbeitung visueller Informationen durch Verbraucher promoviert. Sie arbeitet bei Havas Media Germany im Bereich Data Business Intelligence an Konzepten rund um die Messung von visueller Aufmerksamkeit. Beim Expertenforum erläuterte sie, wie Informationen über die Aufmerksamkeit in unterschiedlichen medialen Umfeldern strategische Impulse bei der Gestaltung von Mediaplänen liefern können.

 

Über alle Medien hinweg bekommen Erwachsene in Deutschland an einem Tag im Durchschnitt 84 Minuten an Werbung präsentiert. Aber nur in 9 Minuten, also 11 Prozent dieser Zeit, wird die Werbung auch tatsächlich aktiv wahrgenommen. Wenn ausschließlich reichweitenbasiert geplant wird, wird also viel Geld für Werbung ausgegeben, die möglicherweise nicht direkt messbar beim Konsumenten ankommt.

 

Havas setzt bei der Operationalisierung von Aufmerksamkeit derzeit primär auf visuelle Aufmerksamkeit in einem ganzheitlichen State-of-the-Art-Ansatz. Dieser kombiniert klassisches Eye-Tracking (zur Cross-Kanal-Optimierung) und KI-basiertes Predictive Eye-Tracking (primär zur Intra-Kanal-Optimierung).

 

Für das klassische Eye-Tracking werden Aufmerksamkeitsdaten durch Lumen und TVision in sehr großem Umfang in einem natürlichen Umfeld erfasst. Zusätzlich zu diesen Panel-Daten hat Havas auch noch die Möglichkeit, kundenspezifische Aufmerksamkeitsdaten auf Kampagnenebene zu erheben. Output dieser Messungen sind Informationen darüber, ob und wie viele Sekunden an Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Werbemittel entfallen. Dadurch, dass diese Daten auf den unterschiedlichen Plattformen ähnlich gemessen werden, können sie auch genutzt werden, um zwischen den Kanälen zu optimieren.

 

Auch die Forschung von Havas bestätigt, dass es in puncto Aufmerksamkeit eine sehr große Differenz zwischen den einzelnen Media-Kanälen gibt. So erzeugt ein TV-Spot von 30 Sekunden Länge durchschnittlich 13,8 Sekunden Aufmerksamkeit. Vergleicht man das mit dem aufmerksamkeitsschwächsten Medium im Panel (Pinterest) mit nur 0,5 Sekunden Aufmerksamkeit, so müsste ein Konsument 27 Pinterest-Werbungen sehen, damit die Kampagne die gleiche Summe an Aufmerksamkeit-Sekunden erzielen könnte.

 

 

Auf Platz 2 bei der Aufmerksamkeit folgt nach TV laut den Paneldaten YouTube. Ohne Möglichkeit zum Ad Skipping erzielt Werbung hier durchschnittlich 4,2 Sekunden an Aufmerksamkeit – können Konsument:innen die Werbung überspringen, dann sind es 2,7 Sekunden. Werbung in anderen Kanälen – also Social, Online-Video und Display – generiert in den Messungen deutlich weniger Aufmerksamkeit.

 

Der alleinige Fokus auf Aufmerksamkeit kostet Reichweite

 

Die Herausforderung bei der Implementierung dieser Ergebnisse in den Planungsalltag ist, dass Aufmerksamkeit und Reichweite zwei Metriken sind, die sich gegensätzlich zueinander verhalten. Das heißt, dass bei einem Fokus der Budget-Allokation auf Aufmerksamkeit zwangsläufig Reichweite verlorengeht. Um die optimale Allokation zu finden, muss also immer eine Gewichtung von Reichweite und Aufmerksamkeit vorgenommen werden, weil es nicht möglich ist, beides gleichzeitig zu maximieren. Graf belegte an einem Beispiel, dass ein geringer Reichweitenverlust dennoch durchaus sinnvoll sein kann, weil damit im konkreten Fall mehr als 400 Stunden an Aufmerksamkeitsgewinn einhergingen.

 

 

Das KI-basierte Tool zum Predictive Tracking wird bei Havas eingesetzt, um schnell und kosteneffizient Hinweise auf die optimale Kreation und wirtschaftliche Platzierung zu liefern. Die Idee dahinter ist, schon in einem frühen Stadium Format, Größe und Kreation zu optimieren. Am konkreten Beispiel zeigte Graf, wie der Einsatz eines größeres Banners zu einem Aufmerksamkeitsschub von 63 Prozent im Vergleich zur kleineren Version führte – bei Mehrkosten von gerade einmal 16 Prozent.

 

Auf der Suche nach der richtigen Aufmerksamkeit

 

Um den Hintergründen der Unterschiede bei der Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Medien auf die Spur zu kommen, empfiehlt es sich, die Nutzungssituationen genauer unter die Lupe zu nehmen. Hierfür nutzt concept m seit mittlerweile 15 Jahren seine Alltagsstudios. Die Proband:innen befinden sich in einem ganz natürlichen Wohn-Setting mit mehreren Räumen und bleiben über mehrere Stunden (manchmal sogar über Nacht) dort. Zunächst wird erfasst, wie sie in dieser Zeit die verschiedenen vorhandenen medialen Angebote nutzen, anschließend werden unter Zuhilfenahme der Mitschnitte aus den Nutzungssituationen qualitative Interviews durchgeführt, um die zugrundeliegenden psychologischen Prozesse zu explorieren.

 

Beim Expertenforum stellte Dirk Ziems die Erkenntnisse einer tiefenpsychologischen Studie zur Werbewirkung von TV im Mood- und Second Screen-Kontext vor. Ziel war, die Prozesse bei der Entstehung von Aufmerksamkeit aufzudecken und so die reinen Messungen der Aufmerksamkeitsdauer um psychologische Insights zu erweitern. Die Analysen decken auf, durch welche Trigger aus potenziellen Nutzer:innen tatsächlich Zuschauer:innen werden und welche Prozesse beim Kontakt mit Content und Werbung ablaufen.

 

Aufmerksamkeit hat viele Schattierungen

 

Das "Mood-Management" spielt immer eine wichtige Rolle bei der Auswahl eines bestimmten Mediums und des konkreten Contents. Damit geht auch einher, wie Werbung  wahrgenommen wird – und ob sie positive oder negative Aufmerksamkeit erzeugt. Werbung kann einen erwünschten Gegenpol zum Content bilden (als Abwechslung, Verschnaufpause, Impulsangebot oder tagträumerische Fantasiereise). Löst sie aber keine dieser Funktionen ein, wird sie möglicherweise nur als störende Unterbrechung wahrgenommen. Die Studie von concept m spricht in diesem Zusammenhang von fünf verschiedenen "Stimmungs-Tönungen" durch Werbung.

 

 

Attention Grabbing: Handy-Parallelnutzung kann TV stärken

 

Aufschlussreich ist der Blick auf das Wechselspiel zwischen TV und Handy bei der Parallelnutzung. Die ständige Verfügbarkeit von Information und Unterhaltung auf dem Smartphone führt nämlich in der Praxis dazu, dass TV-Werbung seltener als früher aktiv weggezappt wird. Stattdessen greifen viele Nutzer:innen während des Werbeblocks zum Smartphone.

 

Guten Spots gelingt es, in dieser Situation die Aufmerksamkeit wieder auf das TV-Gerät zu lenken. Insbesondere bei Mehrfachkontakten hat Fernsehwerbung großes "Kopfkino-Potenzial" – es genügt ein kurzer Trigger, damit die Rezipient:innen den bekannten Spot wieder erinnern. Eine Aufmerksamkeitsmessung, die sich allein auf den visuellen Kontakt mit dem Werbemittel beschränkt, unterschätzt daher die Wirkungspotenziale von TV-Werbung.

 

Der Deep Dive der Forscher:innen beim 1. Screenforce Expertenforum 2023 zeigt, dass Aufmerksamkeit nicht mehr nur als Voraussetzung von Werbewirkung gesehen wird. Inzwischen liegt auch fundiertes Wissen dazu vor, auf welche Mechanismen Werbung setzen muss, um die Aufmerksamkeit der Mediennutzer:innen auf sich zu lenken. Schon heute generiert TV im Medienvergleich die größte Aufmerksamkeitsdauer.